#7 Auf dem Kopf stehen, lachen und mit den Beinen Fliegen fangen.
Ich hab es mir versucht bildlich vorzustellen, mindestens 100mal. Ich habe es sogar versucht nachzumachen – heimlich und hoffentlich unbeobachtet. Auf dem Kopf zu stehen, also einen Kopfstand zu machen, das habe ich hinbekommen. Das Lachen auch. Aber dann – und dies ist irgendwie witzig und traurig zugleich – gab es keine Fliege die ich hätte fangen können. Vielleicht zum Glück.
Sinn und Unsinn gleichermaßen
Was wäre gewesen, wenn eine Fliege um meine Beine geflogen wäre, während die Beine hoch in der Luft, um Balance sich bemühend, als Fliegenfänger hätten zum Einsatz kommen sollen? Wie hätte ich es angestellt? Hätte ich meine Zehen von den Socken befreit und diese analog den Fingern an den Händen zu einer kleinen Zehenhöhle geformt um die Fliege einzufangen? Wäre ich so schnell mit dem zweiten Bein gewesen, oder gar noch schneller, wie es das Fliegenfangen mit zwei Händen schon herausfordernd verlangt?
Wie realistisch ist es überhaupt, dass man eine Fliege mit den Händen schafft einzufangen? Wie (un)realistisch ist dann denn die Aufforderung ich solle „Auf dem Kopf stehen, lachen und mit den Beinen Fliegen fangen?“ Und wieso sollte ich überhaupt Fliegen fangen? Was ergibt das für einen Sinn? Soll ich sie fangen um sie loszuwerden? Was mache ich dann mit der gefangenen Fliege? Sobald ich die Zehen respektive die Finger wieder lockere, entwischt mir die Fliege und ich muss entweder von vorne beginnen die Fliege zu fangen – oder sie fliegen lassen. Und warum soll ich überhaupt eine Fliege um ihre Freiheit bringen? Warum kann sie nicht einfach hin und her fliegen, wie sie will? Wen stört es? Und warum kann ich nicht einfach die Fliege mit den Händen versuchen zu fangen und dabei lachen, statt mit den Beinen? (Um hier mal sprachlich korrekter zu sein, die Aufforderung hätte heißen müssen „Auf den Kopf stehen. lachen und mit den Füßen (wenn nicht gar Zehen) Fliegen fangen“ – dies mal nur so am Rande!)
Unmöglich oder nur zu langsam?
Ich gestehe, es ist mir bisher vielleicht erst ein- oder zweimal in meinem Leben gelungen überhaupt eine Fliege zu fangen und ich habe ehrlicherweise gesagt auch bisher nicht viel Ausdauer dahingehend aufgebracht. Entweder hat mich die Fliege nicht gestört oder, und das ist natürlich auch die ehrlichere Variante, war ich einfach nicht schnell genug. Nicht trickreich genug, nicht ausdauernd genug. Wie um Himmels willen sollte ich dann eine Fliege mit den Beinen auf dem Kopfstehend einfangen und dabei auch noch lachen? Würde meine Kraft überhaupt ausreichen, mich solange auf dem Kopf zu halten? Würde mich nicht das in den Kopf strömende Blut irgendwann handlungsunfähig machen? Würden meine Beine, sofern ich die Balance halten könnte, nicht motorisch völlig überfordert sein mit solch einer komplexen Fliegenfangaufgabe? Und nicht ganz unwichtig – wie sähe ich aus, wenn ich Kopfstand vollbringend hektisch und völlig unelegant mit den Beinen einer Fliege Angst zu machen versuchte und dabei (wie ich eher vermute) hysterisch lachte?
Die Frage aller Fragen:
Ich habe jetzt 10 Minuten am Stück diese Gedanken aufgeschrieben und mich dabei in die Situation reinversetzt, in der meine liebe Mutter Monika mir als Kind mit diesen Spruch antwortet, während sie kochte, putzte, nähte, las oder sonst wie beschäftigt war mit notwendigen haushaltserhaltenden Maßnahmen und meine Geschwister mit irgendeiner mir nicht mehr in Erinnerung behaltenen, Sache beschäftigt waren oder ich nicht bei ihnen mitmischen wollte.
Die aussagende und klagende Frage von mir lautete: „Mir ist langweilig. Was soll ich tun?“
Wenn wir mal ehrlich sind …
Ich glaube, ich sollte gar nicht auf dem Kopf stehen und mit den Beinen Fliegen fangen. Ich glaube das war nur ein sprachliches und auf Freude am Leben orientiertes Ablenkungsmanöver. Mir eine wahnwitzige, herausfordernde Aufgabe zu benennen, die in der Realität weder Sinn erfüllt und (bis zu einem Gegenbeweis) auch nicht umsetzbar ist. Ich habe dies irgendwann (bereits als Kind!) verstanden. Meine Mutter hat auch irgendwann verstanden, dass ich es verstanden habe. Und dennoch hat sie mir immer diesen Vorschlag unterbreitet, wenn ich nicht wusste, wohin mit mir und meiner Freizeit. Irgendwann war es dann auch mehr ein Wortspiel, ein wiederkehrender Dialog. Manchmal von mir auch nur als Test hervorgeholt um zu wissen, ob diese Unterhaltung immer den gleichen Ausgang nimmt. Und sie nahm ihn – und sie nimmt ihn immer noch. Das beruhigte mich, das gab mir Beständigkeit – und tut es noch.
Und seien wir ehrlich, in diesen 10 Minuten Schreibarbeit habe ich mir insgesamt die ausführlichsten und langanhaltendsten Gedanken darüber gemacht, was hinter diesem Vorschlag stecken könnte. Vielleicht sind das auch zu viele Gedanken darüber und meiner Mutter fiel einfach mal dieser Satz wieder ein, den sie von ihrer Mutter in solch einer Situation gehört hatte. Ohne groß darüber nachzudenken und auch – so ehrlich müssen wir an dieser Stelle sein – ohne wirklich dabei auf meine Ningelei einzugehen.
Aber wie es auch war – oder auch immer noch ist. Ich werde die nächste passende Situation abwarten und schauen ob unser Dialog noch funktioniert. Und wer weiß, vielleicht probiere ich es noch mal mit dem Kopfstand und vielleicht ist ja auch durch Zufall eine Fliege da. Und wenn nicht, dann habe ich wenigstens mal wieder einen Kopfstand gemacht und hoffentlich dabei gelacht. Über mich, über meine Ningelei und über den vielleicht ersten wirklich ernstgemeinten Versuch den Spruch in die Tat umzusetzen. Dann kann ich meiner Tochter irgendwann ebenso diese Freizeitbeschäftigung vorschlagen. Zu meiner Erheiterung und vielleicht auch irgendwann zu ihrer. Aber bis dahin habe ich noch Zeit, denn ihr Wortschatz ist derzeit noch beschränkt auf die wesentlichen Dinge in ihrem Leben. Mama, Papa und `ma. Die Fliegen können noch ein wenig warten…